10.12.2020Geopolitik

Europa muss seine Stärken selbstbewusst ausspielen

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Dr. Joachim Lang Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie e.V.
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Die Corona-Pandemie und der zunehmende weltweite Protektionismus bedrohen den Erfolg der exportorientierten deutschen Wirtschaft unmittelbar: Zuverlässige, weltweit vernetzte Lieferketten und ein weitestgehend intaktes Freihandelssystem bereiteten in den vergangenen rund zehn Jahren einer wachsenden Wirtschaft die Grundlage, damit sich hochspezialisierte Mittelständler bis hin zu multinationalen Großkonzernen neue Märkte erschließen und Innovation vorantrieben konnten.

Die Pandemie führt nun drastisch vor Augen, dass in Zeiten einer globalisierten Welt Verwundbarkeiten bestehen – der Wettbewerb wird rauer und unterliegt immer stärker geoökonomischen Denkmustern. Der Handlungsdruck wächst durch die Pandemie, sich diesem Umfeld anzupassen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Umso stärker Krisen und Konflikte sich auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas und damit auf den Wohlstand der Gesellschaften auswirken, desto mehr muss eine widerstandsfähige industrielle Basis ins Zentrum für eine gestaltende, vorausschauende Politik rücken.

Die Kraft der Industrie in Europa ist eine zwingende Voraussetzung, um international auf Augenhöhe zu agieren. Wer wird darauf hören, was Europa zu sagen hat, wenn nicht moderne Technologie und Know-how weiter Beiträge für den globalen Fortschritt leisten? Wie kann die Anziehungskraft Europas erhalten und gestärkt werden, wenn damit nicht Aufstiegs- und Lebenschancen durch ein freiheitliches Gesellschaftsmodell verbunden sind?

Der wachsende bipolare Konflikt zwischen den USA und China zwingt die Europäer eine einheitliche Position einzunehmen. Der Aufstieg Chinas zur größten Wirtschaftsmacht mit dem Ziel in vielen Schlüsselbereichen Technologieführer zu werden, sollte Europa nicht verschrecken, sondern es muss seine Stärken selbstbewusst ausspielen. Europa gewinnt nicht mehr Stärke, indem es seine Märkte abschottet und Technologien staatlich hochzüchtet. Statt Staatseingriffe nachzuahmen, muss die soziale Marktwirtschaft mit einem klugen Ordnungsrahmen der zentrale Pfeiler der Wirtschaftskraft sein. Der Wettbewerb der Ideen muss über die beste Innovation entscheiden und darf sich nicht politischen Wunschzielen unterwerfen.

Know-How in Europa ausbauen und Potenziale nutzen

Die global vernetzte europäische Wirtschaft bleibt nämlich weiterhin ein immanenter Vorteil: Dadurch, dass nur rund ein Prozent der EU-Importe von einer Zulieferquelle stammen und ca. 50 Prozent von mehr als 25 Zulieferquellen, entsteht Verhandlungsmacht und Durchsetzungskraft für internationale Handelsabkommen.

Das Ziel der „strategischen Souveränität“ vor Augen müssen die Bereiche in den Blick genommen werden, die von einseitigen Abhängigkeitsrisiken geprägt sind. Jedoch darf eine zu starke staatliche Kontrolle von Auslandsinvestitionen nicht als zu willkürlich wahrgenommen werden, denn dies würde Investoren abschrecken.

Ein herausragendes Beispiel einseitiger Abhängigkeit ist die Versorgung mit Lithium: Laut EU-Kommission wird bei starker Nachfrage durch die Elektromobilität im Jahr 2030 achtzehn Mal mehr Lithium benötigt als heute, im Jahr 2050 sogar sechzigmal mehr – zurzeit stammt der überwiegende Anteil aus Chile und den USA. Derzeit hängen am Bergbau und Raffination ca. 3,4 Millionen Arbeitsplätze in der EU. Investitionen in die heimische Förderung und Wiederverwertung würde einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und den Erhalt von Industriearbeitsplätzen leisten. Die Neuauflage der deutschen Rohstoffstrategie von Januar 2020 sowie der Aktionsplan zu kritischen Rohstoffen der EU von September 2020 müssen dafür konsequent umgesetzt werden.

Mehr Realismus in der Klimapolitik

Angesichts der Corona-Krise, die einen weltweiten Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen um 28,2 Prozent im ersten Halbjahr 2020 zur Folge hatte, müssen Planungssicherheit und Spielraum für Investitionen Top-Priorität sein. Deutschland läuft stattdessen Gefahr, seinen ordnungspolitischen Kompass zu verlieren und der Versuchung zu erliegen, durch staatliche Interventionen ins Marktgeschehen gewünschte Markteffekte zu erreichen. Politische Wünsche und Ziele müssen sich einem neuen Realismus stellen.

Klimaschutz, Digitalisierung und Demografie als die Megatrends werden den künftigen Wohlstand und den Zusammenhalt der Gesellschaften prägen. Die Generationenaufgabe eines wirksamen Klimaschutzes wird zur Zerreißprobe für die Gesellschaft. Eine gut situierte urbane Mittel- und Oberschicht steht der regional verwurzelten, traditionellen Mittschicht im Industriesektor entgegen. Mit dem zunehmenden Anpassungsdruck geht die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg einher. In der Industrie- und Klimapolitik manifestiert sich nämlich ein Wertekonflikt unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus.

Deshalb muss ein gesamtgesellschaftlicher Konsens die Zukunft der Industrie als Treiber des Fortschritts sichern. Das Aufstiegsversprechen muss in der gesellschaftlichen Breite gelten und nicht nur einer Wissenselite im Dienstleistungsbereich vorbehalten sein, die Wohlstandsverluste im Industriesektor als das notwendige Übel hinnehmen.

Modernes Know-How und C02-sparende Technologie sind eine notwendige Bedingung, um die Klimaziele zu erreichen. Klimapolitik muss deshalb auf den Säulen Nachhaltigkeit, Sozialverträglichkeit und Wachstum beruhen. Trotz der berechtigten Mahnung, schnell zu handeln, darf der öffentliche Diskurs nicht in ein „entweder oder“ abgleiten.

Erstens erzeugt das nicht die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz in einem Land wie Deutschland, in dem ca. 20 Prozent des BIPs durch das Verarbeitende Gewerbe erbracht wird. Zweitens verlieren Deutschland und Europa Attraktivität und Interesse internationaler Mitbewerber, die sicher nicht diesem Beispiel folgen würden.

Realistische Ziele und das technisch Mögliche müssen Paradigma einer verantwortungsbewussten Klimapolitik sein. Nicht das Abwürgen von Wettbewerbsfähigkeit durch Vorgaben, die politische Wunschziele widerspiegeln, senkt den CO2-Ausstoß. Im schlechtesten Fall wandert Industrieproduktion in den globalen Süden mit niedrigeren Ökologie- und auch Sozialstandards. Vielmehr sind es Investitionen in C02-arme Technologien, die auf dem Markt ohne staatliche Dauersubventionen bestehen können, um dem 2-Gradziel näher zu kommen.

Ein industriell schwaches Europa setzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel und würde sich weiter gegenüber China und den USA verzwergen. Wenn Europa nicht nur Spielfeld oder gar Spielball potenter Großmächte sein will, muss es als Spieler beweisen, dass die soziale Marktwirtschaft und ihr Wohlstandsversprechen vereinbar sind mit der ökologischen und digitalen Transformation.

Die soziale Marktwirtschaft und die europäische Souveränität – verstanden als Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln, nicht als Autarkie – sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille.

 

Joachim Lang